Ethische Kurzfassungen aus verschiedenen Zeiten und Kulturen
In kurzen Bekenntnissen, zentralen Gebeten, Tugendkatalogen, Kernaussagen von Grundschriften
oder Konzilsbeschlüssen und vielen anderen Stellen finden sich Verdichtungen ethischer Grundbegriffe und Forderungen.
Je nach Religion, Nation Zeitalter oder Region finden sich erstaunliche Unterschiede.
Viele zentrale Begriffe werden woanders übersehen oder sind wieder in Vergessenheit geraten.
Daher macht es Sinn sich umzusehen.
Die in den Zusammenstellungen genannten Werte, Grundbegriffe und Tugenden müssen in jedem Fall persönlich ausgelegt werden.
Wie sie in ihrem ursprünglichen Zusammenhang verstanden wurden,
können wir bei alten Texten oder Texten anderer Kulturen nicht so leicht bestimmen.
Grundbegriffe sind immer in der Gefahr mit falschen Inhalten gefüllt zu werden
oder in falsche Netzwerke und Situationen gestellt zu werden. (Wertedefinition und Auslegung)
Zwischen Werte, Pflichten, Grundrechten und Bedürfnissen gibt es immer neu Konflikte,
die oft schwer zu entscheiden sind. (Wertekonflikte und Grundkonflikt)
Tugendkataloge
Der Artikel Tugendkataloge (Wikipedia) listet viele Zusammenstellungen zentraler Werte zu verschiedenen Zeiten auf.
Diesen Werten kann man nachspüren, sie versuchen auszulegen, im Alltag umzusetzen
oder ihre Vernetzung und ihre Zusammenhänge erforschen.
Man kann sie auch zu den Formen und dem Netz der Liebe in Beziehung setzten.
Jede Beschäftigung damit wird uns gut tun und uns weiter bringen.
Nebenbei besteht ein Zusammenhang zu den Kulturen dieser Völker,
die die jeweiligen Werte in den Mittelpunkt ihrer (kulturellen) Auslegungen stellten und stellen.
Beispiele:
"Als die vier klassischen Grundtugenden (seit dem Mittelalter: Kardinaltugenden) gelten
Klugheit oder Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung." (Kardinaltugenden)
"Im Mittelalter hat sich folgende Liste der sieben himmlischen Tugenden entwickelt,
die jeweils mit einer entsprechenden Untugend (siehe auch Todsünde) um die Vorherrschaft in der Seele ringen.
Diese Auflistung war auch durch die Bearbeitung im musikalischen Werk Hildegards von Bingen im Mittelalter weit verbreitet:"
Die fünf konfuzianischen Kardinaltugenden (China) sind:
Menschlichkeit
Gerechtigkeit oder Rechtes Handeln
Sitte
Wissen
Wahrhaftigkeit
beziehungsweise nach Mengzi entsprechend
Innigkeit zwischen Vater und Sohn
Rechtes Handeln zwischen Fürst und Untertan
Trennung zwischen Gatte und Gemahlin
Reihenfolge zwischen Alt und Jung
Wahrhaftigkeit zwischen Freund und Freund
Yoga und Hinduismus haben diese Grundtugenden
5 Yamas:
Ahimsa (Gewaltlosigkeit)
Satya (Wahrhaftigkeit)
Asteya (Nicht-Stehlen)
Brahmacharya (Enthaltsamkeit)
Aparigraha (Nicht-Zugreifen)
5 Niyamas:
Shauca (Reinheit)
Santosha (Genügsamkeit)
Tapas (Opfer und Buße)
Svadhyaya (Studium und Reflexion)
Ishvara Pranidhana (Hingabe an Gott)
"Das allegorische Preisgedicht auf Kaiser Karl IV. von Heinrich von Mügeln „Der meide kranz“ (um 1355)
enthält eine Tugendlehre, in der die zwölf Tugenden Weisheit, Wahrheit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit,
Friedfertigkeit, Starkmut (Stärke/Standhaftigkeit), Glaube, Mäßigung, Güte, Demut, Hoffnung und Liebe auftreten."
(Ritterliche Tugenden)
"Bürgerliche Tugenden umfassen insbesondere: Ordentlichkeit, Sparsamkeit, Fleiß, Reinlichkeit und Pünktlichkeit.
Diese Tugenden sind auf die praktische Bewältigung des Alltags gerichtet.
Ihre soziale Funktion besteht im Aufbau und der Sicherung einer wirtschaftlichen Existenz."
(Bürgerliche Tugenden)
Religiöse Ethosverdichtungen
ISLAM
Islamische Tugendkatalog und Wertelisten fehlen hier noch, aber ein guter Beginn sind Allahs schöne 99 Namen.
Von den 5 Grundpflichten des Islam ist nur die Almosensteuer (Zalat) als eine Form der Barmherzigkeit
und Mitverantwortung eine ethische Tugend und nicht vorwiegend religiös wie die anderen 4 Pflichten.
Vom Islamische Verein für wohltätige Projekte e. V. (IVWP) (ein deutscher Zweig der Gruppe Al-Abasch) wurde
eine Schrift mit dem islamischen Pflichtwissen herausgegeben. Diese füge ich hier an:
Attach:ISLAM_Das-individuelle-Pflichtwissen-durch-Frage-und-Antwort.pdf (2 Mb Stand 2024)
Da die Gruppe aus Äthiopien stammt und von Abdullah al-Harari gegründet wurde,
ist nur die Sicht einer bestimmten Untergruppe vieler islamischer Strömungen dargestellt.
(Die Wahhabiten lehnen diese Gruppe neben sehr vielen anderen als irregeleitet ab.)
Ethik und Theologie sind hier auf jeden Fall eng verschränkt. Die Sünden der Menschen und ihre Unzulänglichkeit
Gott gegenüber werden stark betont.
JUDENTUM
Im Judentum bilden neben den 10 Geboten die Grundbegriffe der Sephiroth (göttliche Kräfte gemäß der Kabbala),
die der jüdischen Bibel entnommen sind (1. Buch der Chronik 29,11), einen besonderen Wertekanon.
- Kether oder Kether Eljon (Krone, erster aufleuchtender Punkt im En Sof)
- Chochmah (göttliche Weisheit, Klugheit, Geschicklichkeit, Schöpfungsplan)
- Binah (Wille, Einsicht, Verstand; Intelligenz)
- Chesed (Liebe, Barmherzigkeit, Gnade, Gunst, Treue), bisweilen auch bezeichnet als Gedulah (Größe, Langmut), Abraham
- Din, Gewurah oder Gebura (Gesetz, Stärke, Macht, Sieg, Gerechtigkeit), Isaak
- Tiphareth (Aufrechterhaltung des Daseins, Pracht, Verherrlichung, Schönheit), Jakob
- Netzach (Ewigkeit, Beständigkeit, Sieg; Ruhm, Blut, Saft)
- Hod (Glanz, Majestät, Donner)
- Jesod (Fundament, Gründung, Grund, Grundstein, Grundlage), Josef
- Malchuth oder Schechina (Königreich, Herrschaft, königliche Würde, Regierung), David
- Da’at (das innere Wissen, Erkenntnis, Empfangen)
Eine moderne Zusammenstellung jüdischer Werte (35 Grundsätze liberaler Juden) nennt folgende:
"Uns einen die ethischen Werte des Judentums. Zu ihnen zählen die Ehrfurcht vor dem Leben, die Achtung vor Menschen und ihr Recht auf unversehrtes Leben und Besitz, die Pflicht zur Sorge um Arme und Kranke, das Streben nach Frieden (schalom), Wohltätigkeit gegenüber anderen (gmilut chassadim), gute Taten und soziale Gerechtigkeit (zedaka). Als eigenverantwortliche Partnerinnen und Partner in der Schöpfung haben wir gemäß diesen Werten gegenüber der Umwelt und allen Geschöpfen, die in ihr leben, zu handeln."
Im Buch der Weisheit Kap. 8 ist die Weisheit die Grundtugend, der die anderen Kardinaltugenden (Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maßhalten (Grenzen beachten) und Klugheit) untergeordnet sind.
BAHAI
Die Bahai Gemeinden vertreten eine universalistische Ethik, die von der Vision eines friedlichen
Zusammenlebens aller Völker und Nationen getragen ist.
"Die Erde ist nur ein Land, und alle Menschen sind seine Bürger"
"Die fünf Eckpfeiler dieser universalistischen Ethik sind:
Liebe, Einheit, Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit"
(nach Farah Dustdar, Ethik in der Bahai-Religion in H. R. Yousefi , H. Seubert (Hrsg.), Ethik im Weltkontext, Springer 2014).
CHRISTENTUM
Demut, Vergeben und Barmherzigkeit sollten die zentralen Tugenden des Christentums sein.
Die Demut ergibt sich aus der Selbstdemütigung Christi in der Menschwerdung Gottes.
Die Vergebung und Befreiung ist seine zentrale Aufgabe und die Barmherzigkeit die Einstellung seines Herzens.
1. Barmherzigkeit
Die Barmherzigkeit ist eine Grundtugend für Juden, Christen und Moslems.
In allen drei Religionen ist sie eine Eigenschaft Gottes. Bei Juden und Christen eine Grundeigenschaft der Gottesliebe.
Mitleid und Güte sind aber auch in östlichen Religionen zentrale Begriffe.
Detailliert mit Inhalt gefüllt und konkret wird die Barmherzigkeit besonders in der katholischen Kirche
durch die 14 Werke der Barmherzigkeit:
Die 7 leibliche Werke der Barmherzigkeit (Quelle: Matthäusevangelium Kap. 25, 35 ff)
Hungrige speisen
Durstigen zu trinken geben
Fremde beherbergen
Nackte kleiden
Kranke pflegen
Gefangene besuchen
Tote bestatten
Die 7 geistige Werke der Barmherzigkeit (Quelle und Wurzeln in der Tradition hier unklar!)
Unwissende lehren
Zweifelnde beraten
Trauernde trösten
Sünder zurechtweisen
Beleidigern gern verzeihen
Lästige geduldig ertragen
Für Lebende und Verstorbene beten
An vielen zentralen Stellen wie den Seligpreisungen wird die Barmherzigkeit im Neuen Testament ausdrücklich erwähnt.
2. Vergebung
Obwohl das Vergeben für Christen zentral und grundlegend ist (siehe die Bitte "vergib uns, wie auch wir vergeben ..." im Vater-Unser-Gebet und die Erklärung im Matthäusevangelium 6,14),
gehört die Vergebung nicht explizit zu den 7 Haupttugenden.
Es ist für viele in der Liebe enthalten (aber auch nicht explizit bei Paulus genannt im Hoheslied der Liebe 1. Kor 13).
Es gibt im Christentum ein Problem mit der Vergebung und deren Einordung im Netz der Liebe.
3. Demut
Die Demut ist das Gegenteil von Überheblichkeit, die Abstand und Beziehungsferne schafft.
Wenn Gott sich bis zum Menschsein erniedrigt, können Christen sich nicht über andere erheben.
Leider kann Demut verwendet werden, um anderen Rechte abzusprechen und sie religiös zu versklaven.
Ebenso schützt äußerliche Demut nicht vor innerem Hochmut.
Eine Auslegung der Demut ist schwierig!
Ethos weltweit
Bekannte zentrale Tugenden anderer Nationen sind Ubuntu (Afrika) und Aloha (Polynesien).
Beide Haltungen haben eine große Nähe zu den Grundideen des Kolibriethos.
Wie bei jeder Form großer Offenheit oder Gastfreundschaft ist jedoch ein hohes Maß an Sicherheit und Vertrauen notwendig.
ALOHA
Aloha ist ein polynesischer Begriff und bedeutet auf Hawai:
Liebe, Zuneigung, Nächstenliebe, Mitgefühl, Freundlichkeit oder Sympathie
(Warmherzigkeit, Mitgefühl, Barmherzigkeit, Sympathie, Mitleid, Freundlichkeit, Güte, Anmut)
"Aloha bedeutet nach einer volksetymologischen Erklärung der letzten Königin von Hawaiʻi, Liliʻuokalani:
Im Angesicht des Atems Gottes stehen, sinngemäß vom Geist Gottes erfüllt sein
oder seinen Lebensatem eingehaucht bekommen zu haben. (siehe Wikipedia-Artikel zu Aloha)
Aloha wird betont an den Anfang einer Begegnung gesetzt und daher als besondere und innige Begrüßung verwendet (ähnlich NAMASTE in Indien).
Aloha-Spirit wird bei Oceano-Whalewatching so beschrieben:
"Seit 1986 ist es auch im hawaiianischen Gesetz mit dem folgenden Text verankert: Aloha Spirit ist die Gleichstellung von Geist (mind) und Herz in einer Person. Aloha bedeutet gegenseitige Rücksicht, Warmherzigkeit weitet sich in bedingungslose Fürsorge aus. Aloha ist die Essenz in Beziehungen, in der jeder Mensch für jeden wichtig ist und ebenso für die kollektive Existenz. Aloha heißt, das zu hören, was nicht gesagt wurde, das zu sehen was nicht gesehen werden kann und das was nicht gewusst werden kann, zu wissen…"
UBUNTU
Ubuntu "bezeichnet eine Lebensphilosophie, die im alltäglichen Leben aus afrikanischen Überlieferungen heraus vor allem im südlichen Afrika praktiziert wird. Das Wort Ubuntu kommt aus den Bantusprachen der Zulu und der Xhosa und bedeutet in etwa Menschlichkeit, Nächstenliebe und Gemeinsinn sowie die Erfahrung und das Bewusstsein, dass man selbst Teil eines Ganzen ist. Ubuntu kann aufgefasst werden als gemeinsam zu Menschen werden, einander wechselseitig menschlich machen."
Ethische Weltanschauungen und Religionen
Reicht eine Ethik als Weltanschauung, als Weltsicht aus und gibt es Religionen,
die die Ethik oder ein Ethos in den Mittelpunkt stellen, neben oder gar über religiöse Aussagen?