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Multireligiosität verwirklichen und multireligiös leben
Multireligiosität umfasst die Vernetzung, Nachbarschaft, Vermischung, Integration und Transformation verschiedener Religionen auf verschiedenen Ebenen.
Interreligiosität, Interreligiöser Dialog, Synkretismus, religiöser Pluralismus, religiöse Vielfalt (Diversität), die Frage der Gestaltung einer multireligiösen Gesellschaft oder einer multireligiösen Feier sind Teilaspekte der Multireligiosität. Im Bereich der Ökumene, eines Weltethos, einer Universalreligion oder des Multikulturalismus werden multireligiöse Problemstellungen behandelt.
Konkret wird multireligiös in der öffentlichen Diskussion verwendet:
Zur Bezeichnung pluraler multireligiöser Gesellschaften
Bei der Öffnung des interreligiösen Dialogs hin zum multireligiösen Diskurs
Beim Entwürfen für einen multireligiösen Unterricht oder Ansätzen für multireligiöses Lernen
Bei der innerkirchlichen Debatte multireligiöse statt interreligiöse Feiern zu praktizieren
Für die Tatsache der vielfältigen Integration von Elementen verschiedener Religionen wird oft der
negativ gewertete Begriff Synkretismus verwendet
statt von einer inneren Multireligiosität einer Religion zu sprechen.
Der Begriff Multireligiosität erbt die begrifflichen Unschärfen der Grundbegriffe Religion und Religiosität.
Dabei wird oft eine Religion auf genau eine Religiosität bezogen und diese dann als christliche Religiosität bezeichnet. Religiosität hat jedoch eine eigene unabhängige Vielfalt.
Die Vielfalt der Religionen und ihrer Mischformen wird erweitert durch die Vielfalt an Religiosität innerhalb jeder Religion,
wobei sich in jeder Religiosität Elemente anderer Religionen und Traditionen finden.
Eine Person kann ein Anhänger einer multireligiösen Richtung sein oder sich mit verschiedenen Religiositäten
verbunden fühlen und diese (vermischt/eklektisch) praktizieren.
Multireligiosität benötigt auf allen Ebenen Toleranz, Kritikfähigkeit, Selbstkritik, Kompromissbereitschaft und Akzeptanz.
Multireligiosität ist keine Form des Relativismus, weil die Begegnung mit und
das Vertiefen in die vielschichtige Religiosität anderer Religionen auch den eigenen Glauben,
die eigene Praxis und die eigenen Werte vertiefen kann.
Multireligiosität hat viele Wurzeln in der Geschichte, in den Gesellschaften, in persönlichen Beziehungen, im Wirken einzelner Multiplikatoren und integrativer Bewegungen.
In der Geschichte finden sich einige Zeiträume und viele Orte mit engem und fruchtbarem Mit- oder Nebeneinander verschiedener Religionen (siehe Details zu Multireligiosität in der Vergangenheit).
Dort wurden dann auch multireligiöse Strukturen, Reglungen und Feiern entwickelt, um Konflikte zu entschärfen oder Verständnis aufzubauen.
Multireligiosität ist von Bedeutung
- Im Bereich jeder speziellen Religion bezüglich ihrer multireligiösen Wurzeln und ihrer internen Auseinandersetzungen mit Elementen anderer Religionen und ihren eigenen mannigfaltigen Formen der Religiosität
- Im Bereich der vielfältigen Beziehungen verschiedener Religionen und ihrer Vertreter miteinander
- im Bereich von Gesellschaften oder Staaten
- im Bereich von kleinen Gemeinschaften, Familien oder Individuen, deren Lebensgestaltung und Kommunikation
Multireligiosität innerhalb einer Religion
Viele traditionelle Religionen erlauben keine gleichzeitige Verehrung anderer Religionen oder die Zugehörigkeit
zu mehreren Glaubensrichtungen einer Religion. Sie fordern von ihren Mitgliedern eindeutige Bekenntnisse,
Treueeide oder ein Abschwören früherer Glaubensformen.
Ein Anerkennen der eigenen inneren Diversität und die friedliche Integration ihrer eigenen widersprüchlichen Vielfalt fällt ihnen schwer.
Man versucht "klar" und eindeutig zu sein, schafft es aber nicht, alle internen Spuren anderer Religionen zu beseitigen,
sich nicht von Zeitströmungen, Ereignissen oder anderen Religionen immer neu verändern und prägen zu lassen
oder innere Reformbewegungen zu stoppen.
Man schafft es nicht den Mitgliedern ihre freie spirituelle Selbstbestimmung zu gewähren und
viele Mitglieder schaffen es nicht, ihre Spiritualität frei und eigenständig zu leben und zu entwickeln.
Die innere Vielfalt an Religiosität zeigt sich in einer Aufspaltung in viele oft verfeindete Untergruppen.
Diese innere Multireligiosität und Vielfalt einer Religion beginnt bereits bei ihren Wurzeln und Grunddokumenten.
Viele Elemente der Herkunftsreligionen werden komplett oder modifiziert behalten.
Damit wird aber auch die religiöse Vielfalt der Vorgängerreligionen übernommen.
Im Lauf der Geschichte spalten sich Religionen auf und jede Strömung integriert weitere Elemente anderer Religionen
oder entwickelt eigene Vorstellungen, die zur Abtrennung weiterer Religionen oder neuen Formen der Religiosität führen.
Oft werden auch verworfene Elemente der Mutterreligionen wiederbelebt und reaktiviert (Sabbat im Christentum, Gnosis, Arianismus).
Viele Widersprüche und Grabenkämpfe innerhalb einer Religion beruhen auf Elementen aus verschieden religiösen Quellen,
die so nicht vereinbar sind und je anders gewichtet, modifiziert oder interpretiert werden.
Im Islam werden jüdische, orthodox-christliche, judenchristliche, altarabische und Elemente weiterer Religionen zusammengestellt (lose verbunden),
bleiben aber deutlich in ihrer Herkunft erkennbar.
Dennoch wird es Proteste geben zu sagen: Der Islam ist multireligiös im Sinn einer Vielheit und Vielgestalt der Religiosität und der religiösen Elemente.
Der Hinduismus dagegen sieht sich selbst selbstverständlich als multireligiöse Vielheit,
subsummiert dabei aber andere sehr eigenständige Religionen, die sich nicht als hinduistische
Variationen ihrer selbst eingliedern lassen wollen.
Im Christentum ist die gelebte und theologisch untermauerte Vielfalt an Religiosität unüberschaubar (Orthodoxe Richtungen, Katholizismus, Evangelische, Baptisten, Charismatiker, Sekten). Viele Richtungen können die Religiosität der anderen Richtungen nicht verstehen.
Eine ökumenische Zusammenarbeit und Gemeinschaft wird von einigen Hauptrichtungen gelebt, gestaltet sich im Detail aber problematisch.
Ökumene erfordert ein intensives Einarbeiten in andere Glaubensformen und bleibt daher kleinen "gebildeten" Gruppen vorbehalten.
Multireligiosität im Miteinander der Religionen
Multireligiosität bezeichnet das eigenständige, gleichwertige und selbstbewusste Nebeneinander von Religionen.
In interreligiösen Gesprächen und Veranstaltungen wird versucht, dieses Mit- und Nebeneinander zu klären. Viele besonders universelle Religionen wünschen sich von allen Menschen anerkannt zu werden, können aber selbst nur schwer ihre Wahrheiten relativieren und andere Religionen als ebenbürtig anerkennen. Gerade die inneren Richtungsstreitereien vieler Religionen führen zu verbindlichen Grundentscheidungen, die neben Untergruppen auch andere Religionen ausschließen.
Selbst Religionen, die die Vielfalt im Innern bejahen und auch andere Religionen akzeptieren, gehen teilweise den Weg andere Religionen als Vorläufer (Bahai, Islam, Christen) oder als Untergruppen (Hinduismus, Heilsinklusivismus) zu sehen.
Die friedlichen Strukturen und Kompromisse, die für innere Konflikte erarbeitet wurden (Ökumene, gemeinsame Gremien) können auf den Bereich der Multireligiosität übertragen werden.
Religionen und Gruppen müssen klären, wie sie mit der spirituellen Individualität des einzelnen umgehen, diese schützen und begrenzen, besonders wenn sie schon innerhalb der eigenen Gemeinschaften zu Problemen führt.
Multireligiosität in Nationen und Staaten
Hier geht es um das Miteinander und Nebeneinander von Religionen im rechtlich geregelten öffentlichen Raum.
Aufgrund der in den Menschenrechten verankerten Religionsfreiheit sollten Religionen innerhalb moderner Staaten friedlich und gleichberechtigt nebeneinander leben. Oft sind jedoch Staatsreligionen oder Religionen von Bevölkerungsmehrheit medial, finanziell und rechtlich bevorzugt, während andere bekämpft werden. Einige Gruppierungen lehnen weltliche Regierungen, Gesetze und Ordnungen ab oder überschreiten (teils unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit) rechtliche Grenzen. Andere Religionen haben sich aufgrund historischer Erfahrungen hauptsächlich in den privaten Bereich zurückgezogen. Virtuelle Räume ermöglichen heute neue Formen der Gemeinschaft, der Begegnung und der regionalen und internationalen Vernetzung, die von Staaten kaum kontrolliert werden oder werden können.
Die weitgehende Trennung von Staat und Religion ermöglicht es vielen Staaten religiöse Organisationen als Körperschaften öffentlichen Rechts oder als Vereine neutral und gleich zu behandeln und ihre direkte politische Macht zu begrenzen.
Ansprüche auf eine staatlich geförderte religiöse Versorgung (Religionsunterricht, Seelsorge in Gefängnissen, Kasernen oder Krankenhäusern, Förderung von religiösen Bauten) können aufgrund der Vielzahl an Religionen nicht für alle etabliert werden. Ein multireligiöser Unterricht oder multireligiöse Feiern können hier der religiösen Vielfalt der Teilnehmer und Besucher Rechnung tragen. Vereinzelt werden religiöse Zentren gebaut, die von mehreren Religionen genutzt werden oder in Andachtsräumen Bereiche für verschiedenen Religionen eingerichtet.
Im Rahmen der Sicherheit der öffentlichen Ordnung sind Religionen, ihre Einrichtungen und Mitglieder geschützt vor Angriffen oder Beleidigungen durch Anhänger anderer Weltsichten. Das Thema Blasphemie oder Gotteslästerung ist auch bei einer Trennung von Staat und Kirche rechtlich geregelt. Die Meinungsfreiheit schützt die verbale und mediale religiöse Auseinandersetzung und die gegenseitige Kritik.
Multireligiosität bei kleinen Gemeinschaften und Individuen
Je enger und intensiver Menschen zusammenleben, desto mehr kann es aufgrund verschiedener religiöser Vorstellungen und Regeln zu Missverständnissen, Vorurteilen und Konflikten kommen.
Es werden vermehrt aber auch Elemente anderer Religionen genutzt, übernommen und integriert
(buddhistische Christen und buddhistische Juden). Nachdem moderne christliche Theologien Jesus stärker als Jude begreifen und seine jüdischen Wurzeln betonten, konnten auch Juden beginnen, Jesus als Rabbi neu zu sehen.
Oft war und ist es bei bi-religiösen Partnerschaften ("Mischehen") Pflicht, eine gemeinsame Religion festzulegen und einer musste seine Religion ablegen und übertreten. Durch die oft nur lose Beziehung zur Herkunftsreligion sind andere und neue Formen der bi-religiösen Beziehungen möglich geworden.
Im englischen gibt es für die individuelle Multireligiosität einen eigenen Begriff: MultiFaith.
Multireligiöse Praxis
Im Alltag, in der Arbeits- und Berufswelt, in der politischen Welt, in Schule und Bildung, in Medizin und Beratung
muss Multireligiosität gelebt, organisiert und geschützt werden. Aufgrund von Ängsten, Machtansprüchen,
Intoleranz oder banal aufgrund der Kosten und Umständlichkeiten scheitern viele multireligiösen Projekte und Ideen.
- Staat und Multireligiosität
Hier sind es besonders die Bereiche Verwaltung, Militär, Bildung, Strafvollzug und Gesetzgebung,
in denen multireligiöse Fragen beantwortet und Lösungen umgesetzt werden müssen.
Religion abzutrennen oder "weltanschaulich neutral" zu sein klappt meist nicht.
Ebenso schwierig ist es, für jede Religion einen eigenen Service und eigene Bereiche aufzubauen.
Es müssen Kompromisse zwischen Geschichte, Kultur, Religionen, Wissenschaft und Mehrheiten gefunden werden.
Es muss eingeübt werden, diese Kompromisse zu akzeptieren und zu vermitteln.
Wichtige Konfliktfelder sollten in Arbeitsgruppen geklärt und die schriftlich vereinbarten Kompromisse veröffentlicht werden.
- Medizin und Multireligiosität
Je nach Religiosität und Religion gibt es unterschiedliche Haltungen zu vielen medizinischen Themen, Medikamenten und Eingriffen. 2013 hat sich eine Tagung zur Medizinethik damit beschäftigt. In kritischen Situationen können hier religiöse Vorschriften außer Kraft gesetzt werden.
- Arbeitswelt und Multireligiosität
Eine Gesellschaft mit einer vorherrschenden Religion kann leichter Feiertage und Riten auch in den Arbeitsalltag integrieren. Bei multireligiösen Gesellschaften muss dies individuell geregelt und abgewägt werden. Schleier bei islamischen Lehrkräften im Unterricht per Gesetz zu verbieten ist keine gute Regelung, wenn man damit die normale religiöse Vielfalt der Gesellschaft versucht vor den Kindern zu verbergen.
In den Schulen sollten die Grundlagen mehrerer Weltreligionen vermittelt und gelehrt werden.
Dies umfasst die Verwurzelungen in anderen Religionen, die innere Vielfalt und Widersprüchlichkeit und die bereichernden Besonderheiten und Vertiefungen des Menschseins, die jede Richtung beisteuert.
- Multireligiös, multikulturell und Anders
Durch die Begegnung und den Austausch der Kulturen werden auch viele religiöse Inhalte geteilt, besprochen und erfahren.
Dennoch kann es bei einem engen Nebeneinander verschiedener Kulturen zu Konflikten kommen,
die teilweise religiös überhöht und verschärft werden. Hier ist individuell und lokal viel zu tun,
besonders wenn andere etwa wirtschaftliche Probleme die Spannungen verschärfen.
Gefährlich ist es die Unterschiedlichkeit der Menschen als Abweichung von einer willkürlich festgelegten Norm zu framen.
Durch Othering (VerAnderung, Andersmachung oder Fremdmachung) wird der Andere abgewertet,
allein weil er anders ist - und oft ist er gar nicht so anders und unterschiedlich und wir selbst nicht homogen!
Es wäre wichtig und gut, wenn Arbeitsgruppen Lösungen für wichtige Konfliktfelder
und Handreichungen für häufige Missverständnisse erarbeiten.
Es gibt Konflikte von verschiedenen Werten, die nicht grundsätzlich lösbar sind!
Es gibt Meinungsverschiedenheiten, die nicht geklärt werden können.
- Multireligiöse Orte und Bauten
Viele Orte beherbergen heilige Stätten verschiedener Religionen (Jerusalem, Istanbul, ...).
Bei den Bauten finden sich nur wenige, die von mehreren Religionen gemeinsam genutzt und gepflegt werden.
Religionsübergreifende Veranstaltungen haben weltweit zugenommen und es werden immer neue Formen dazu entwickelt. Dies ist ein großer Fortschritt. Ein Beispiel ist die interreligiöse Woche oder der 1950 von den Bahais initiierte Weltreligionstag.
Multireligiös und tolerant sein
Eine Religiosität, die in verschiedenen anderen Religionen wurzelt, ist per se nicht tolerant.
Toleranz und spirituelle Selbstbestimmung muss immer neu eingeübt und verwirklicht werden.
Selbst eine von den Grundsätzen her tolerante Religiosität kann sehr intolerant gelebt werden.
Multireligiosität kann muss aber nicht selbstkritische Elemente oder relativierende Denkansätze beinhalten.
Das Bewusstsein, enge Verbindungen zu anderen Religionen zu haben, sollte offener und toleranter machen,
aber wer auswählt, lehnt auch ab und sortiert aus. Wer verbunden ist, sucht auch Distanz.
Es gilt zudem:
Vielfalt ist nicht Beliebigkeit!
Freiheit ist nicht Verantwortungslosigkeit!
Kreativität ist nicht Stillosigkeit!
Offenheit ist nicht Grenzenlosigkeit!
Toleranz ist nicht Kritiklosigkeit!
(aus Ethos)
Es hilft, sich ernsthaft mit den Wurzeln seiner Religion und der Vielfalt an religiösen Formen zu beschäftigen. Erst aber, wenn wir ein starkes inneres Gefühl der kosmischen und religiösen Basis in uns haben und erkennen, dass diese höchst individuell ist, dann können wir verstehen, wie anders diese innere Basis bei anderen sein kann und sein darf.
Es wäre schön, wenn Multireligiosität so ausgelegt und gelebt wird, dass jede Religiosität ihren Freiraum bekommt, von den anderen geschätzt wird und eingeladen ist zum Miteinander, aber auch selbstkritisch lebt und streng die Grundrechte der Natur und der Menschen beachtet.
Weiterführendes
Neben dem Bereich Multireligiosität in der Vergangenheit
wurde auch das ganze Material zu Multireligiosität, die Quellen, Zitate und Dokumente dazu auf eine zweite Seite ausgelagert.